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Überstunden spenden für Kollegen: Ein Interview mit Pia Meier

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Birgit Wetjen

Autorin

31. Mai 2018

Überstunden spenden? Geht nicht, sagen Juristen. Geht doch, sagt Personalchefin Pia Meier – und setzte es durch. Ein Interview.

herMoney: Frau Meier, Sie haben es als Personalchefin der Seidel GmbH & Co KG mit einer ungewöhnlichen Hilfsaktion in alle Medien gebracht. Überrascht Sie der Rummel?

Pia Meier: Ja, ich hätte nicht gedacht, dass das, was für mich selbstverständlich ist, so viele Menschen interessiert…

Selbstverständlich ist anders. Ihre Mitarbeiter haben 3.300 Überstunden für einen Kollegen gespendet, damit er seinen krebskranken Sohn betreuen kann. Wie kam es zu der Aktion?

Eine Kollegin aus der Produktion hatte mich angesprochen – ob ich wüsste, dass das Kind des Kollegen schwer erkrankt sei. Ich wusste das nicht und rief ihn an. Da hatte er seinen Jahresurlaub bereits aufgebraucht und bot mir direkt die Kündigung an, um seinen Sohn weiter betreuen zu können – sein Sohn gehe vor. Für mich war das keine Option, eine Kündigung kam gar nicht in Frage. Also habe ich mich mit meinem Chef und dem Betriebsrat zusammengesetzt und wir haben eine Lösung entwickelt.

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Und wie sah die konkret aus?

Zunächst hat die Firma die Familie finanziell unterstützt. Und dann haben wir jeden der 700 Mitarbeiter angeschrieben, den Hintergrund erklärt und gefragt, wer bereit ist, Überstunden zu spenden. Binnen zwei Wochen waren 3300 Stunden zusammen.

Haben sich alle Mitarbeiter beteiligt?

Ja, inklusive Führungskräfte, die jeweils 100 Arbeitsstunden abgegeben haben. Das hat viele Mitarbeiter, mich eingeschlossen, sehr berührt und die Belegschaft extrem zusammengeschweißt. Unter dem Strich kamen so viele Stunden zusammen, dass sich der betroffene Mitarbeiter gut 1,5 Jahre um seinen kranken Sohn kümmern konnte – bei vollem Gehalt inklusive Weihnachtsgeld und ohne Angst vor einem Arbeitsplatzverlust.

Trägt Ihr Chef Ihr soziales Engagement mit?

(lacht) Dr. Andreas Ritzenhoff, der geschäftsführende Inhaber von Seidel, ist kein BWLer, sondern eigentlich Arzt. Er hat das Unternehmen von seinem Vater geerbt und es war immer sein Wunsch, das Unternehmen so zu führen. Wir leben also die gleichen Werte und ziehen – auch mit dem Betriebsrat – an einem Strang.

Ihr Chef hat Medizin studiert, Sie haben zunächst eine Ausbildung zur Arzthelferin und später zur Fremdsprachenkorrespondentin gemacht. Ein untypisches Führungsduo …

Wäre ich Juristin, hätte ich so eine Lösung wahrscheinlich gar nicht in Betracht gezogen. Juristen denken anders, für sie stehen juristische Fragestellungen im Vordergrund. Und als Juristin hätte ich wohl auch zuerst an steuerliche Implikationen gedacht. Sogar Juraprofessoren haben mich angeschrieben und gefragt: Wie haben Sie das gemacht? Laut Gesetz sei das doch gar nicht erlaubt, Überstunden an andere zu übertragen.

Und was antworten Sie?

Arbeitsverträge sind individuelle Vereinbarungen. Für das Finanzamt jedoch ist der Übertrag von Überstunden kompliziert. Da könnte noch etwas auf uns zukommen, aber für eine gute Lösung nehmen wir das in Kauf. Andererseits hat der hessische Finanzminister Thomas Schäfer höchstpersönlich den 700 Mitarbeitern der Firma Seidel für die Spendenaktion den Preis „Menschen des Respekts“ verliehen – im Namen der Landesregierung. Wenn seine Behörde uns im Nachgang wegen „geldwerten Vorteils“ rankriegen will, wird er das erklären müssen!

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Noch einmal zu Ihnen: Sie haben eine bemerkenswerte Karriere gemacht. Wie wird man als Arzthelferin und Fremdsprachenkorrespondentin zur Personalleiterin – in einem Unternehmen mit 700 Angestellten?

Das ist eine lange Geschichte. Ich habe nach meiner Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin als Assistentin der Geschäftsführung gearbeitet. Als der damalige Personalverantwortliche das Unternehmen verlassen hat, bat mich mein Chef, übergangsweise die Verhandlungen mit dem Betriebsrat zu führen. Offensichtlich habe ich meine Sache ganz gut gemacht. Nach ein paar Monaten jedenfalls klopfte der Betriebsratsvorsitzende bei Dr. Ritzenhoff an und bat ihn, mich zur Personalchefin zu befördern.

Hatten Sie keine Angst, der Aufgabe nicht gerecht zu werden?

Natürlich hatte ich die. „Um Gottes Willen, der Schuh ist zu groß für mich“, war meine erste Reaktion. „Ich bin doch keine Juristin“. Aber mir wurde schnell klar, dass das auch gar nicht wichtig ist. Entscheidend ist die Verhaltenskompetenz, das Feeling für die Menschen. Wenn ich tatsächlich mal juristischen Rat benötige, beauftrage ich Spezialisten. Herz und Seele aber, die im Umgang mit Menschen von zentraler Bedeutung sind, kann man nicht kaufen.

Sie haben neben der Überstunden-Aktion noch anderen Beschäftigten auf ungewöhnliche Art und Weise geholfen. Gehören Privatangelegenheiten in den Betrieb?

Das lässt sich doch gar nicht trennen. Wenn jemand private Probleme hat, hat das immer auch Auswirkungen auf die Arbeit. Deshalb biete ich jedem Mitarbeiter Unterstützung an, dränge sie aber niemandem auf. Die Mitarbeiter wissen das und scheuen sich auch nicht, sich an mich zu wenden. Einmal standen beispielsweise zwei Mitarbeiter mit ihrem kleinen Kind vor meiner Tür. Sie hielten einen Brief mit einer Räumungsklage in der Hand und waren verzweifelt. Der Termin für die Räumung war der folgende Tagb…

 Konnten Sie helfen?

Ich habe sofort den Bürgermeister der Stadt Marburg angerufen, der im Vorstand der Wohnungsbaugesellschaft sitzt, um das Verfahren zu stoppen. Dann habe ich mit den Gläubigern verhandelt und Vergleiche geschlossen. Dadurch konnten wir die Schulden von 25.000 auf 9.000 Euro reduzieren. Bis das Schufa-Verfahren abgeschlossen war, haben wir als Firma zwischenfinanziert. Heute zahlen die Mitarbeiter ein Bankdarlehen zu 3,3 Prozent Zinsen in kleinen Schritten ab. Und sie haben ihre Wohnung und ihren Arbeitsplatz behalten.

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Wird Ihr soziales Engagement denn nicht auch ausgenutzt?

Da muss man aufpassen, aber das passiert nicht. Vielleicht, weil ich die Mitarbeiter sehr gut kenne und ehrlich Anteil an ihrem Leben nehme. Ich würde es aber auch niemandem raten, mich zu hintergehen – da verstehe ich überhaupt keinen Spaß. Bei uns zählt Verbindlichkeit. Jeder bekommt eine Chance, wer aber mit falschen Karten spielt, verlässt das Unternehmen.

Sie sagen, Sie nehmen Anteil am Leben der Mitarbeiter – eine weibliche Eigenschaft? Oder anders gefragt: Führen Frauen anders als Männer?

Ich denke schon. Vielleicht ist es der mütterliche Instinkt, den Frauen mitbringen – wir Frauen sehen nicht nur den Mitarbeiter, sondern den Menschen dahinter. Im Unternehmen ist der Anteil der weiblichen Führungskräfte in den vergangenen Jahren gestiegen – seit Gründung der Firma im Jahr 1830 hat erstmals eine Frau die Leitung der Produktion übernommen. Auch die Abteilung Produktentwicklung und Projektmanagement verantwortet jetzt eine Frau.

Kann es sich ein Unternehmen, das im globalen Wettbewerb steht, überhaupt leisten, es „menscheln“ zu lassen?

 Bei allen Veränderungen, die anstehen, können wir Herz und Seele nicht ersetzen. Ich denke, hier wird sich zukünftig die Spreu vom Weizen trennen – bei dem Wettbewerb um Fachkräfte wird das ein entscheidender Faktor sein. Ich erlebe es immer wieder, dass sich Fachkräfte für uns entscheiden, obwohl sie woanders mehr verdienen könnten. Wer nicht als Mensch gesehen und respektiert wird, brennt auf lange Sicht aus, das ist meine ganz feste Überzeugung. Und unsere Strategie scheint aufzugehen. 2017 haben wir das beste Ergebnis in der Unternehmensgeschichte erzielt.

 

Pia Meier ist seit sieben Jahren Personalchefin und Mitglied der Geschäftsführung der Firma Seidel GmbH & Co KG. Das 1830 gegründete Unternehmen mit 700 Beschäftigten ist Weltmarktführer im Bereich Design-Primärverpackungen für die Kosmetikindustrie. Im Frühjahr wurde die Belegschaft von Seidel für eine ungewöhnliche Hilfsaktion mit dem Preis „Menschen des Respekts“ des Landes Hessen ausgezeichnet.

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Birgit Wetjen

Autorin

Birgit Wetjen ist Volkswirtin, Finanzjournalistin und Buchautorin. Sie ist überzeugt: Geldanlage ist nicht weiblich oder männlich – aber Frauen haben Berührungsängste und gehen anders an Geldthemen ran.